Szeneviertel Dresden-Neustadt

«Kommst du mit in die Neustadt?» – fast jedem Dresdner dürfte diese Frage bekannt vorkommen. Täglich pilgern hunderte ins Viertel um an Kultur und Nachtleben teilzuhaben. Aber wieso ist das Gründerzeitviertel etwas so besonderes? Was hebt die Neustadt von der atemberaubenden Barockkulisse der Altstadt ab?

Allen Voran ist es die Vielfalt, die das Alltagsbild des Viertels prägt. Die Neustadt ist der Platz für Individualisten. Denn anders als oftmals behauptet gibt es keinen “typischen Neustädter”. Im Viertel trifft man auf völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, die aber dennoch etwas gemeinsam haben: Der Großteil der Neustädter kann als tolerant, kritisch, weltoffen und durchaus exzentrisch angesehen werden. Und alle sind sie stolz auf “ihre Neustadt” – ein Stolz der alljährlich bei der Bunten Republik Neustadt zelebriert wird.

Doch erst die unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Stadtteils machen die Neustadt zu dem, was wir “Szeneviertel” nennen: Musiker und Kleinkünstler unterschiedlicher Richtungen, die verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen, eine Vielzahl religiöser Gemeinschaften, das Neustädter Nachtleben mit seinen unzähligen Kneipen, Bars und Restaurants. Punks und Hopper, Studenten und Arbeitslose, Deutsche und Ausländer – sie alle tragen zum bunten Bild der Neustadt bei.

Die Neustadt als Stadtteil mit relativ geringem Durchschnittsalter verändert sich ständig – mal zum Guten, mal zum Schlechten. Geschäfte, Kneipen, Kunstrichtungen kommen und gehen. Nur wer sich innovativ und dynamisch zeigt kann längere Zeit bestehen. Allerspätestens in den frühen Morgenstunden merkt man, dass Zeit hier auch ohne Einstein sehr relativ ist. Spontanität als Lebensart: Nicht ohne Grund ist das Viertel zum Anziehungspunkt der Jugend geworden. Und doch trifft man immer wieder auf echte “Neustadturgesteine”, die ihrem Stadtteil niemals den Rücken zuwenden würden.

Durch die weitgehende Verschonung der Äußeren Neustadt von den alliierten Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg hat sie sich ihren historischen Flair aus der Gründerzeit erhalten können und mutet wie eine kleine, bescheidene Altstadt an. In dieser haben schon zu DDR-Zeiten Künstler und Weltbürger Alternativen zum bestehenden System gesucht und dies auch durch offenen Protest zum Ausdruck gebracht, so zum Beispiel gegen den Abriss großer Neustadtteile zu Gunsten von DDR-Plattenbauten.

Auch heutige Politik trifft hier oft auf Unverständnis. So wurde der vom Ortsbeirat Neustadt einstimmig ausgesprochene Namensvorschlag “Nach Panama” für die neue Straße am Panama-Spielplatz vom Stadtrat ignoriert. Seit 2004 trägt sie den sperrigen Namen “Seifhennersdorfer Straße”. Ebenso werden die derzeit geplanten Veränderungen des Verkehrsnetzes heftig kritisiert. So wurde an der Ecke Görlitzer-/Louisenstraße eine umstrittene Ampelanlage und auf der Kamenzer Straße 24-28 ein Parkhaus gebaut.

Doch ein echter Neustädter lässt sich von so etwas nicht die Laune verderben. Genausowenig wie von den “Schattenseiten”, die ein solch bunter Stadtteil nun mal mit sich bringt: Lärm bis tief in die Nacht, Punks und Hunde im Straßenbild, Graffiti wohin das Auge blickt, vom Bieröffnen arg in Mitleidenschaft gezogene Türklinken, unfreundliche Ordnungs- und Polizeibeamte in Konkurrenz zu auswärtigen Krawallmachern – so etwas empfinden wir eher als belustigend statt als störend.

Denn trotzdem ist hier tagsüber das Paradies für Kinder, Grillmeister, Parkfußballspieler, Eisesser und nachts das der Musiker, Selbstdarsteller und ausdauernden Partygänger. Nicht selten kehrt man nach einer gelungenen Party in die Neustadt ein um einfach weiterfeiern zu können während außerhalb bereits geschlafen wird.

Die Äußere Neustadt im 17. bis 19. Jahrhundert
Das gesamte Gebiet der heutigen Äußeren Neustadt bestand im Mittelalter aus Heidewald, der gerodet und bebaut wurde. So entstanden große Kahlflächen, die aufgrund der fehlenden Vegetation versandeten und deren Sandstürme in der Elbe ganze Sandbänke entstehen ließen. Im Jahre 1685 wurde Altendresden, die heutige Innere Neustadt, durch einen großen Brand heimgesucht, der auch die Dreikönigskirche verwüstete.

Wolf Caspar von Klengel (1630-1691), Oberlandbaumeister sowie Oberinspektor der Zivil- und Militärgebäude unter dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg II., begann kurz nach dem Brand mit der Erarbeitung eines Wiederaufbauplans. Er sah eine barocke Stadtanlage mit einer prächtigen Allee als zentrale Achse vor. Diese Achse wurde schließlich unter August dem Starken mit der Via triumphalis, der heutigen Hauptstraße umgesetzt.

Zudem sollte nach dem Brand der königliche Holzhof aus der Stadtfestung verlegt werden. Als Ort wurde die heutige Holzhofgasse gewählt. Am 26. September 1701 ordnete August der Starke schließlich an “das vor Dresden und bis dato unfruchtbar gelegene Feld, insgemein auf dem Sand genannt, weiln solches ohnedem im geringsten nicht zu gebrauchen, erb- und eigentümlich denen zu übergeben, die vor der Festung bauen wollten”. Dieses Spezialscript führte zu den ersten Ansiedlungen von Bürgern, Beamten und armen Böhmen, nach denen die Böhmische Straße benannt wurde.

Im Jahre 1745 wurden die neuen Ansiedlungen nach Planung des Landbaumeisters J.H. Schwarze erweitert. Die Spuren der Erweiterung sind bis in die Gegenwart sichtbar. Zu ihnen gehören die Bautzner Straße und die Königsbrücker Straße als Verbindungen zu Bautzen und Königsbrück. An der Stelle des heutigen Martin-Luther-Platz wurde zunächst ein freier Platz gelassen.

Bis zum 18. Jahrhundert reichte die Dresdner Heide noch bis zum Bischofsweg. Hier wurde 1765 eine Alaunflusssiederei angesiedelt, die bis 1841 genutzt wurde. Erst um 1830 wurde der Baumbestand abgeholzt und ein Infanterieübungsplatz angelegt, der mit einigen Unterbrechungen bis 1945 für militärische Zwecke genutzt wurde.

Am 21. Juli 1789 eröffnete die Volks- und Industrieschule einschließlich Waisenhaus in der Louisenstraße 59. Die nach dem Gründer Dr. Rädler benannte “Rädlersche Schule” ist eines der ältesten noch erhaltenen Gebäude Dresdens. Aus den Dresdner Geschichtsblättern: “Die Schule bestand aus zwei Klassen, in deren jeder sich im Jahre 1794 gegen 100 Kinder befanden. Die Arbeitsschule enthielt drei Klassen, nämlich eine Flachsspinnerei-, eine Schafwollspinnerei- und eine Strick- und Nähklasse.”

1832 wurde die Louisenstraße gebaut, mit der sich die Äußere Neustadt zu einer an die Innere Neustadt anschließenden, aber in sich geschlossenen Vorstadt entwickelte.

1835 umfasste die Äußere Neustadt über 400 Gebäude mit rund 6.000 Einwohnern. Noch war der Neue Anbau eine eigenständige Gemeinde, doch wegen der doppelten Besteuerung von Gewerbetreibenden durch Stadt und Gemeinde wurde eine Vereinigung mit Dresden angestrebt. Die erfolgte am 13. Juni 1835 und der neue Dresdner Stadtteil wurde nach dem damaligen König Antonstadt getauft. Über seine Einweihung berichtet 50 Jahre später der Dresdner Anzeiger:

“Hiernach begab sich am Namenstage des Landesherren […] eine Deputation […] in früher Morgenstunde nach Pillnitz zum König Anton, um Glückwünsche und Danksagung […] darzubringen […] Gegen 4 Uhr Nachmittags traf der greise König mit der königlichen Familie an der Ehrenpforte ein und wurde hier mit feierlicher Ansprache durch den […] Finanzsekretär Speck im Namen der Gemeinde mit herzlichen Worten gegrüßt. Der König dankte den Gemeindemitgliedern für die ihm erwiesene Aufmerksamkeit. Hochrufe beschlossen die weihevolle Feier der Antonstadt, welche des Abends zu Ehren des officiellen Tauftages freiwillig eine feierliche Illumination veranstaltete.”

Die Zichorienfabrik Jordan & Timaeus, 1823 gegründet, umfasste 1850 ganze 200 Arbeitskräfte und war somit zu dieser Zeit eine der größten Fabriken Dresdens. Sie produzierte Schokolade, Kaffeesurrogate, Kakao, Zuckerwaren, Lebkuchen und Zitronat bis sie 1936 abgerissen wurde. Auf ihrem Gelände baute man die Timaeusstraße.

Die 1838 von Heinrich Erdmann Thiele gegründete Treibriemenfabrik wurde 1872 zur AG für Leder-, Maschinenriemen- und Militäreffectenfabrikation auf dem Gelände der Böhmischen Straße 10. Später wurde sie zwangsenteignet und in den VEB Leder- und Plastikverarbeitung überführt. 1994 wurde das Gebäude aufgekauft und die Fabrikhalle abgerissen. Heute befinden sich dort Neubauten mit dem Neustädter Polizeirevier und anderen Behörden.

“Ein Jahr bevor ich zur Schule kam, wurde ich mit knapp sechs Jahren das jüngste Mitglied des Turnvereins zu Neu- und Antonstadt.” Der Verein, von dem Erich Kästner in “Als ich ein kleiner Junge war” 1957 schreibt, wurde bereits 1861 auf dem Grundstück Alaunstraße 36/40 gegründet, wo heute die “Scheune” seit 1953 steht, damals das erste Jugendhaus der DDR.

Literatur und Quellen

  • Die Äußere Neustadt – Aus der Geschichte eines Dresdner Stadtteils, 1995
  • H. Haug, Die Geschichte der Antonstadt, Dresdner Geschichtsblätter, 1896
  • Das 50jährige Jubiläum der Antonstadt am 13. Juni, Dresdner Anzeiger, 1885
  • Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war, 1957
  • dresden-und-sachsen.de
  • dresden-pictures.com
  • wikipedia.org

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Neustadtgeschichte bei der Stiftung Dresden-Neustadt

Im Jahr 1880 stellte Paul Pfund sechs Kühe hinter eine Glasscheibe in seinem Laden in der damaligen Waldgasse (heute Görlitzer Straße) und ließ die Kunden wählen, von welcher Kuh sie die Milch haben wollten. Daraus wurde eines der größten Milchunternehmens Deutschlands. Pfunds Molkerei stellte Deutschlands erste Kondensmilch her und besaß eine Fabrik in Böhmen sowie eine Spedition in Hamburg, von wo aus die Produkte der Gebrüder Pfund bis nach Afrika und Amerika verschifft wurden. Allein in Dresden existierten 55 Filialen, von denen die in der Bautzner Straße 79 heute unter Denkmalschutz steht. Touristengruppen werden abgeladen und wieder eingesammelt um den traditionsreichen, aber überteuerten Käse zu kaufen.

1883 bis 1887 wurde dann die Martin-Luther-Kirche vom Dresdner Architekturbüro Giese & Weidner entworfen. Ihr hoher Turm markiert die Äußere Neustadt auch aus der Ferne. Sie bestimmt das Aussehen des gleichzeitig erbauten Martin-Luther-Platzes und fügt sich somit sehr gut in die umliegenden Bauten ein.

Der größte Teil der historischen Gebäude in der Neustadt stammt, wie unschwer ersichtlich, aus der Gründerzeit, die Epoche kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Das Geld, das von Frankreich verlangt wurde (4 Milliarden Mark) ermöglichte einen wirtschaftlichen Aufschwung und viele Unternehmen wurden gegründet, die teilweise sofort wieder eingingen, von denen manche aber auch bis heute Bestand haben.